GUT LEBEN
So wie persönliche Erlebnisse bleiben bestimmte Filme auf ewig in unserer Erinnerung. Michael Glawoggers Trilogie Megacities, Workingman’s Death und Whores’ Glory gehören für mich dazu. es sind drei bildgewaltige, monumentale Dokumentarfilme über unmenschliche Arbeits- und Lebensbe-dingungen, Armut, Extremformen der Ausbeutung, über Leid, Schmutz und Elend, die mir auch nach Jahren noch zu denken geben. Bei einigen Szenen schnürte es mir förmlich die Kehle zu. Es sind Filme, die wehtun und schockieren, die berühren und tief nachdenklich stimmen. Ob blutüberströmte Freiluftschlachthöfe in Nigeria, Schwefel schleppende Arbeiter auf der Insel Java oder Prostituierte in Bangladesch – Glawogger zeigt eine Welt, die mit unserer „heilen“ europäischen Lebenswirklichkeit so gar nichts zu tun hat. Natürlich weiß ich, dass die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen rund um den Globus viele Ursachen haben. Doch immer wieder taucht eine Frage auf: warum wird einer in Armut und Elend geboren und leidet die ganze Zeit? Und warum wird ein anderer in Deutschland oder Dänemark geboren und es geht ihm oder ihr nur gut? Ist es Glück, Prädestination, Schicksal oder purer Zufall? Fest steht, wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, die schon war. Wir wurden nicht gefragt, ob und wo wir auf die Welt kommen wollen. Wir wissen nicht, was das Leben für uns bereithält, doch es möge gut zu uns sein – das ist der Wunsch aller auf diesem Planeten lebenden 7,5 Milliarden Menschen. Ein gutes und glückliches Leben – deswegen verlassen viele Menschen ihre Heimat und kommen nach Europa. Was aber ist das überhaupt, das gute Leben? „Ein Garten und Bücher“, soll der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero geantwortet haben. Dann fehle ihm nichts.
Über 2000 Jahre später ist das gute Leben noch immer ein Thema. im Büro, am Stammtisch, im Urlaub oder in Ratgebern – überall wird über das gute Leben philosophiert und diskutiert. Heute ist das gute Leben ein zentraler Begriff, Hauptziel der Sozialethik und Gegenstand der Glücksforschung. Nicht wirklich überraschend sind deren Ergebnisse: Geld mache zufrieden, aber nicht unbegrenzt. ist erst einmal ein bestimmter finanzieller Wohlstand erreicht, gibt es bei zusätzlichem finanziellem Spielraum keine Steigerung des Glücksgefühls mehr. Viel wichtiger seien gelingende soziale Beziehungen und befriedigende, sinnvolle Tätigkeiten.
Für den Philosophen und Psychopathologen Michel Foucault, einen der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts, war das gute Leben ein angenehmes und sicheres Leben für den einzelnen sowie das in ethisch-moralischer Hinsicht anständige Leben im Sinne der Gemeinschaft. Glaubt man ihm, so ist das gute Leben also immer auch vom Wohlergehen anderer abhängig. Wir können kein gutes Leben führen, wenn vor der Haustür Unzufriedenheit, Elend und Leid herrschen. Etwas anders formuliert: wir sollten nicht nur gut zu uns sein, sondern auch zu anderen. Denn zum guten Leben gehört, sich gut zu verhalten. Diese Maxime finden wir in einem alten, weitverbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik, der sogenannten Goldenen Regel. „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Die negative Fassung ist als das gereimte Sprichwort bekannt: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Ein gutes Leben sollte sich daher immer am Gemeinwohl orientierten. Bei aller Erkenntnis der Glücksforschung und philosophischer Weisheit: Letztendlich muss jeder einzelne Mensch beantworten, was ihm wichtig ist, wie viel Wohlstand er braucht und wie viel persönlichen Wohlstand er verantworten kann.
„Und wie steht’s mit deinem eigenen guten leben?“, fragte mich jüngst ein guter Freund. „nun, ich versuche zumindest kein verschwenderisches und egoistisches Leben zu führen, auch wenn es mir im alltäglichen Trott und Stress nicht immer gelingt. Es ist mein Bemühen, gelassener zu werden, einfacher zu leben und nicht jeder Konsumverlockung nachzugeben.“ „Hört sich ein wenig nach Weltverbesserung an“, antwortete er ein wenig provozierend. „Nein“, erwiderte ich. „Man kann die Welt nicht allein retten, aber man kann sich mehr Mühe geben.“ Ob ökologische, humanistische oder spirituelle Motive: der Wille zum Guten gehört für mich zum guten Leben. Wenn mich die Not eines bettelnden Menschen vor den Schaufenstern in unseren Fußgängerzonen nicht mehr anrührt, läuft etwas schief in meinem Leben – und das will ich nicht.
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in meinem kleinen Arbeitszimmer mit Blick in unseren Garten, auf blühende Fliederbüsche, Spiersträuche und den blauen Himmel. Eine kleine eigene Welt in einer oft nur mehr schwer zu verstehenden großen Welt. Es ist ein Glück, hier leben zu dürfen. es ist ein Glück, das eigene Leben als ein gutes Leben zu empfinden, zufrieden zu sein mit dem, was man hat, es mit anderen zu teilen und andere daran teilhaben zu lassen. Es ist ein Glück, sich mit dem zu begnügen, was das Leben uns schenkt. Ist das gute Leben nicht einfach Zufriedenheit – und Zufriedenheit Glück? Ich weiß es nicht und bin einfach nur dankbar für dieses Leben. Und glaubt man dem englischen Philosophen Francis Bacon, so sind nicht die Glücklichen dankbar, sondern „es sind die Dankbaren, die glücklich sind“.