Sternenhimmel
Die über mir funkelnde Milchstraße zieht quer über den Himmel von Horizont zu Horizont. Dieser schlicht überwältigende Anblick aus meinem Schlafsack in den klaren Nachthimmel mit Tausenden von funkelnden Sternen wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Wer jemals ein solches Naturschauspiel in absoluter Stille in den Bergen erlebt hat, weiß, dass sie ein Raum sind, in dem andere Kräfte herrschen II als der Mensch. Die Faszination, die der moderne Alpinismus auf viele von uns ausübt, ist nicht immer mit der sportlichen Leistung allein erklärbar. Der sternbesäte Nachthimmel und die Berge können auch der Anstoß sein, sich mehr mit dem eigenen Dasein zu beschäftigen. Die metaphysische Beschäftigung mit der eigenen Existenz und der Sinnhaftigkeit unseres Lebens könnte man auch als eine Art von Spiritualität sehen, wobei diese nicht unbedingt im spezifisch religiösen Sinn zu verstehen sein muss. Denn Spiritualität kann auch als bewusste Beschäftigung mit Sinn- und Wertfragen des Daseins, der Welt und der Menschen und besonders der eigenen Existenz und seiner Selbstverwirklichung im Leben definiert werden.
Bewegt man sich abseits der überlaufenen touristischen Trampelpfade, sind abgeschiedene und einsame Gebirge ein idealer Ort zur Kontemplation und Meditation. Immer wieder berichten Höhenbergsteiger von transzendentalen Erfahrungen. Für den Theologen Michael Albus sind Berggipfel Orte, an denen es höher nicht geht und wo man dem, was uns übersteigt, am nächsten ist. Für ihn stellen sie einen Punkt dar, an dem sich Himmel und Erde berühren. Bei Bergtouren in sehr großen Höhen, werde der Mensch mit Leib und Seele gefordert und es kann zugespitzt zu religiösen Erfahrungen kommen. Die Naturwissenschaft bezeichnet diese Erfahrungen als „Flow Gefühl" oder „Runners high". Ohne Anglizismen würde man von einem besonders positiven Bewusstseinszustand sprechen. Flow kann auch als Zustand beschrieben werden, in dem Aufmerksamkeit, Motivation und die Umgebung in einer Art produktiven Harmonie zusammentreffen. Ist Spiritualität also nur ein Nebenprodukt körperlicher Anstrengung und produktiver Harmonie oder sind Berge doch auch Orte der Sinnsuche und Selbstfindung?
Vom schottischen Bergsteiger Robert Macfarlane stammt die Feststellung, dass sich der Mensch angesichts der Absolutheit hoher Gipfel seiner eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst wird und sich daher selbst infrage stellt. Andererseits, so Macfarlane in seinem Buch „Berge im Kopf" weiter, demonstrierten sie auch die Vergänglichkeit der Erde. Denn obgleich sie den Anschein von Ewigkeit hätten, unterliegen auch sie den Kräften der Erosion und dem Klima — das ewige Eis schmilzt und immer mehr majestätische Gesteinsriesen zerbröseln im wahrsten Sinn des Wortes. Sie demonstrierten also ebenso die Vergänglichkeit unserer Erde und somit unseres eigenen Daseins. Der Weg in die Berge kann auch ein Weg zu uns selbst sein. Berge können uns helfen, nicht nur bis zur nächsten Bergkette zu sehen, sondern auch unseren Horizont zu erweitern. Neue Wege suchen, überkommene Sichtweisen hinterfragen, denken, was nicht denkbar ist und sehen, was nicht sichtbar ist.
Ein letzter Gedanke zum sternbesäten Nachthimmel in den Bergen. Wie weit sind die Sterne eigentlich entfernt? Der nächste Stern (außer der Sonne) ist rund 4.2 Lichtjahre von der Erde entfernt und heißt Alpha Centauri. Ein Lichtjahr entspricht etwa 9.467 Milliarden km. 4.2 Lichtjahre sind also etwa 40.000 Milliarden km - also ziemlich weit. Der Begriff „Stern" suggeriert die nahezu unendliche Ferne der Welten, wenn wir in irdischen Dimensionen denken. Bilder wie „ich greife nach den Sternen" stehen und standen für das Unerreichbare. Nicht so in einem Zitat von Hugo von Hofmannsthal. „Das kluge Kind: , Kannst du einen Stern anrühren?' fragt man es. , Ja, sagt es, neigt sich und berührt die Erde." Besserwisser könnten einwenden, die Erde ist ja kein Stern (weil keine Gaskugel), aber umgangssprachlich nennt man ja alle Himmelskörper, also auch Planeten, Stern. Ich genieße dieses Zitat Hofmannsthals, dem es sicher nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse ging. Wer nach den Sternen greifen will, muss sich tief beugen. Vielleicht sind es die klugen Kinder mit ihrem klaren Blick, mit ihrer Fähigkeit zum Staunen und zum Träumen, die unseren oft begrenzten Horizont erweitern.